Buy.ology – Vorsicht, wenn ein rationalistisches Dogma auf das andere folgt

Ich habe ganz frisch „Buy.ology“ von Martin Lindstrom gelesen. So wichtig und richtig der Hinweis ist, dass man sich vom Irrglauben der rationalen Entscheidungen verabschieden muss, der im Homo-Oeconomicus-Modell seine absolute Zuspitzung gefunden hat. So wertvoll das Bewusstsein ist, dass unsere Entscheidungen und unser Verhalten durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden, die weit entfernt davon sind, der Aristotelischen Logik zu gehorchen. So muss man sich doch fragen, warum man 7 Mio. Dollar ausgegeben hat für Erkenntnisse, die jeder gut ausgebildete Semiotiker (Zeichentheoretiker) für ein Hundertstel der Summe hätte liefern können. Schon Charles Sanders Peirce der Begründer der Pragmatik und der modernen Semiotik hat Anfang des vergangenen Jahrhunderts erkannt, dass die dynamische Bedeutung eines Phänomens (der Interpretant) nicht nur als logischer, sondern auch als emotionaler oder als energetischer auftreten kann. Und er hatte dabei durchaus schon die physiologischen Reaktionen im Gehirn des Menschen z.B. auf die Farbe „Rot“ im Sinn.

Mit der Betonung der Irrationalität der menschlichen Entscheidungen schlägt Lindstrom auf einen selbst geschaffenen Popanz ein. Man tut selbst der Betriebswirtschaftslehre heute unrecht, wenn man sie auf einen Hort eines reaktionären Entscheidungsrationalismus reduzieren würde. Und jeder der aus einer geistes- und/oder sozialwissenschaftlichen Denktradition kommt – wie ich – weiß und spürt, dass uns Menschen weit mehr ausmacht, als das, was man Ratio nennt. „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen.“ (Goethe Faust I)

Interessant ist, dass Lindstrom aber um die Rationalität aus unseren Entscheidungen auszutreiben sich bei der großen rationalistischen, naturwissenschaftlichen Logik bedienen muss. Wenn das Aufleuchten (= Durchblutet-Sein) bestimmter Hirnregionen mehr Vertrauen in die Tatsache erzeugt, dass wir Menschen auch emotionale und unbewusste Wesen sind, ist dies nicht der Sieg über die falsche Rationalität, sondern der verzweifelte Versuch, sie zu erhalten.

Lindstrom unterstellt Sozialwissenschaftlern, Psychologen und Ethnologen sie würden Äußerungen ihrer Probanden ungefiltert eins zu eins als Wahrheit übernehmen, wenn er Interviews, Beobachtungen oder Gruppendiskussionen pauschal als ergebnislos für das Marketing klassifiziert. Als ob nicht über 100 Jahre psychologischer und soziologischer Forschung und weit über 2000 Jahre philosophischen Denkens uns weit darüber hinaus gebracht haben, dies zu tun. Nicht die Logik des „nur was ich auch sehen kann, wie Hirndurchblutungen, verschafft uns den Erkenntnisgewinn“ (über uns selbst), sondern die zugegeben manchmal schmerzliche Einsicht in die Unhintergehbarkeit der menschlichen Subjektivität, die uns so unterschiedliche Denkrichtungen wie Konstruktivismus, Phänomenologie oder Systemtheorie seit Jahrzehnten nahe legen.

Wenn das Technik-Feuerwerk der Geräte-Medizin mehr Forscher und mehr Manager dazu bringt, sich mit den emotionalen und subrationalen Aspekten unseres Verhaltens zu befassen, kann man das nur begrüßen. Wenn dies aber zur Ausblendung all der Dinge führt, die wir eigentlich schon alle wissen könnten. Wenn wir das mit begrifflicher Unschärfe z.B. beim Begriff des Unbewussten bezahlen müssen, laufen wir Gefahr keinen Fort- sondern einen Rückschritt zu machen, in unseren Anstrengungen, Menschen zu verstehen und durchaus auch anzuleiten. Dann ersetzen wir einfach die eine zu kurz greifende rationale Erzählung durch die neuen Erzählungen, die das Flackern der Hirnbilder deuten.

Und dabei ist der Begriff des Rationalen bei Lindstrom ein höchst flüchtiger, so erklärt er bei Bedarf die sensorische Geschmacksentscheidung, z.B. beim Pepsi-Test, zu einem rationalen Akt, der durch den dann irrational genannten Akt einer kulturell und sozialisatorisch vermittelten Marken-Bewertung überlagert wird. Man könnte auch das genaue Gegenteil argumentieren. Neurowissenschaft steht für mich unter dem Verdacht ein mechanistisches Menschen-Bild nur durch ein anderes ebenso mechanistisches Menschen-Bild ersetzen zu wollen, und den Kampf für unsere vermeintliche Irrationalität nur als Chimäre aufzubauen, um letztlich einer veralteten naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Denke zu einer künstlichen Lebensverlängerung zu verhelfen.

Denn inzwischen hat ja gerade die Naturwissenschaft per se, die Physik, längst den Schulterschluss mit der Geisteswissenschaft per se, der Philosophie, gesucht, weil sie anders den Phänomenen der Relativität, der Flüchtigkeit und der Subjektivität in ihrem Objektbereich nicht Herr wird. Und die Wissenschaftstheorie hat längst erkannt, dass Erkenntnis und Wissen immer Verhandlungsergebnisse sind – Verhandlungen, die wir mit unseren Mitmenschen aber auch mit uns selbst führen müssen.

In diesem Sinne fühlen Sie sich aufgefordert, sich selbst ein Urteil zu bilden: Martin Lindstrom: Buy.ology bei Campus, und in die Verhandlung mit uns über die bessere Interpretation und die bessere Handlung einzusteigen.

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