Kommunikation in und vor Gruppen

Inhalt:

Anfänge / Ursprünge / Quellen der Kommunikation
Entwicklung und bedeutende Richtungen der Kommunikation und deren Vertreter
Typische Fragestellungen in der Kommunikation
Typische Axiome, Theoreme und Begriffe in der Kommunikation
Typische Deutungsmuster in der Kommunikation (Analyse- und Lösungsstrategien)
Typische Anwendungsfelder dieser Kommunikation
Typische Kritik an der Wissenschaftsdisziplin
Bedeutung der Kommunikation für das Coaching

Anfänge / Ursprünge / Quellen der Kommunikation

Die frühesten Auseinandersetzungen mit Kommunikation, ihren Funktionen und ihren Gelingensbedingungen nahmen ihren Anfang eben bei der Kommunikation vor Gruppen. Die Rhetorik als Lehre von der richtigen und der erfolgreichen Rede war zugleich immer eine Theorie der Kommunikation mit und vor Gruppen. Ob politische Rede, juristische Verhandlung oder Ehrung fast selbstverständlich ging man davon aus, dass ein Redner mehrere Adressaten, Zuhörer und Beobachter hat.

Im Gegensatz dazu schien das Zweiergespräch dem reinen Erkenntnisgewinn und strenger Rationalität vorbehalten, frei von den Techniken, Tricks und Fouls der öffentlichen Rede. Prototypisch angelegt in den Platonischen Dialogen.

Die Idee, die konstruktive Interaktion von genau zwei Personen als Schlüsselprozess herauszulösen und ihm eine spezifische verbindende Funktion beim Erkenntnisprozess dieser Personen zuzuweisen, ist dagegen ein recht junger Gedanke, der die eher einzelgängerischen Ansätze der Erkenntnistheoretiker mit denen der Rhetoriker fruchtbar kreuzt. Soziologie, Pädagogik und Psychologie bereicherten hier die Sprachwissenschaft entscheidend zur sozialwissenschaftlichen Kommunikationswissenschaft – in Abgrenzung zur publizistischen Kommunikationswissenschaft.

Eine Skizze des zu Grunde liegenden Verständnisses der Zweier-Kommunikation habe ich an anderer Stelle recht aktuell und stimmig zu dem hier gewählten Vorgehen vorgelegt und möchte dies nicht wiederholen. Hier soll es jetzt um den wieder erweiterten Fokus gehen, wenn eine dritte Person oder gar mehrere zu unserem kommunizierenden Pärchen hinzutreten. Was verändert sich, was bleibt gleich?

Naturgemäß bleibt dieser Beitrag eine subjektive Sicht der Dinge, die sich eher als Denkanstoß versteht. Und die es genießt, frei und modern Gedanken sammeln und verschmelzen zu können ohne sich im Stile akademischer Oberseminare permanent fußnotenartig zur Quellenlage absichern zu müssen. Die Literaturhinweise an verschiedenen Stellen verstehen sich zusätzlich zu den genau drei Literaturhinweisen am Schluss als Anregung zum Weiterlesen in die eine oder andere Richtung.

Entwicklung und bedeutende Richtungen der Kommunikation und deren Vertreter

Die Rhetorik ist über Jahrhunderte eine der Schlüsselfertigkeiten der Wissenschaftler und gebildeten Schichten. Als zentraler Teil der 7 Freien Künste beeinflusst sie auch Diskussionen über Gott, Recht und die Politik. Von der antiken Philosophie bis zur Theologie des späten Mittelalters wird der gewinnenden Rede – somit der Kommunikation in Gruppen – große Bedeutung beigemessen. Wesentliche Elemente, wie z. B. die Figurenlehre, haben sich bis heute erhalten und sind sogar im Rahmen der Semiotik in andere Bereiche z. B. die visuelle Rhetorik übertragen worden.

Mit der Aufklärung begegnete man der dem Gespräch innewohnenden Subjektivität zunehmend kritisch. Eine Haltung, die vereinfacht gesagt bis ins 20ste Jahrhundert anhielt. Bis dahin folgte nun die gelehrte Beschäftigung mit Sprache und Kommunikation eher empirischen (Gebrüder Grimm), später sogar naturwissenschaftlichen (Junggrammatiker) Modellen. Erst die „Wiederentdeckung“ des Subjektiven z. B. in Form der Psychoanalyse Freuds oder der Phänomenologie von Husserl und Alfred Schütz bereitet den Boden für eine Weiterentwicklung der Wissenschaft von der Kommunikation zwischen Subjekten.

Mit der Ethnomethodologie, einer primär anthropologischen Forschungsrichtung der 50ziger Jahre, die sich mit dem Verstehen sozialer Praktiken von Gruppen beschäftigt, rückte dann auch die Kommunikation, die Frage wie sich ihre Abläufe organisieren und wie Verständigung und Verstehen entsteht, wieder stärker ins Interesse, was in eine umfangreiche Konversations- oder Gesprächsanalyse mündet, auf der viele unserer heutigen Erkenntnisse beruhen und die vor allem den starren Formenkatalog der Rhetorik aufgebrochen hat und Kommunikation als dynamisches, subjektives und selbst organisierendes Verfahren schildert.

Parallel entwickelte sich eine Kommunikationssoziologie, mit Erving Goffman als bekanntestem Vertreter, die sich basierend auf den Entwicklungen der Soziologie Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit dem Wechselverhältnis von Kommunikation und Sozialität auseinandersetzt. Die Kommunikationssoziologie legt erhellende Beschreibungen vor, wie Erwartungen an Rolle und Situation Äußerungen und deren Verständnis prägen, wie andererseits symbolische Äußerungen Rollen und Situationen definieren können. Zudem stellt sie die formende und leitende Funktion von Kommunikation und Gemeinschaft gegenüber der Psyche jedes Individuums dar.

In der Denktradition der Gruppendynamik, die nach wie vor für die Beschreibung von Kommunikation in Gruppen eine große Relevanz darstellt, da sie das Grundmuster für alle möglichen Klassifikationen abgibt, kann man eine Verbindung von Goffmannscher oder (Georg) Simmelscher Kommunikationsanalyse und Ethnomethodologie sehen. Die Gruppendynamik formuliert abstrakte, von spezifi schen sozialen Bedingungen losgelöste Verhaltensmuster in der Interaktion und Kommunikation von Gruppen, wie das Bild vom Alphatier oder die Opposition von Kampf und Flucht.

Mit der Sozio-Semiotik, hier ist Ferruccio Rossi-Landi als wichtigster Vertreter zu nennen, wird ein weiterer Faktor der Gruppenkommunikation beschrieben. Die Tatsache nämlich, dass sich in Zeichen, ihren Systemen und Bedeutungen, Gemeinschaft verdichtet. Eigentlich sind Zeichen – in allen physischen Ausprägungen – die einzigen Materialisierungen, in denen uns Sozialität verfügbar wird. Die Sozio-Semiotik schärft unseren Blick auf jahrtausende alte Techniken, wie Sprachregelungen, Gemeinschaft stiftende Symbole oder bewusste Exklusion durch Zeichensysteme.

In der gegenwärtigen Kommunikationswissenschaft, wie sie in Deutschland z. B. an der Uni Münster in der Nachfolge von Klaus Merten betrieben wird, finden wir weitgehend eine Synthese der hier beschriebenen Ansätze, mit einer starken zusätzlichen Berücksichtigung von Mediennutzung. Im Bereich der direkten Gruppenkommunikation – ob mit oder ohne Medieneinsatz, z. B. Videokonferenz, ist dabei weniger relevant – steht dabei ein durch soziale Rahmen und Gemeinsamkeiten in der Sozialisation eingebetteter Konstruktivismus im Mittelpunkt der Theorien. Denn die zentrale Funktion von Gruppenkommunikation ist es, die unhintergehbare subjektive Lebenswelt im Prozess der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann) für den Einzelnen und die Gruppe erträglich und lebbar zu machen.

Typische Fragestellungen in der Kommunikation

Die klassischen Fragestellungen der Kommunikationswissenschaften sind:

  • Wie entstehen Bedeutungen, am besten in sozialen Gruppen geteilte Bedeutungen?
  • Wie kann man über Bedeutungen, über Zeichen und über Kommunikation Verhalten beeinflussen?
  • Kann man Kommunikationsverhalten operationalisieren, d.h. vorhersehbar und letztlich optimierbar machen?
  • Durch die Fragestellung nach der Gruppe kommen Aspekte hinzu, wie
    • Welche verändernden Wirkungen ruft die Anwesenheit von weiteren Personen hervor?
    • Was macht sozial geteilte Bedeutungen aus?
    • Gibt es unterschiedliche Funktionen und Rollen bei mehreren Kommunikationspartnern? Sind diese individuell durch die Persönlichkeit oder eher funktional durch die Interaktion bestimmt?

Typische Axiome, Theoreme und Begriffe in der Kommunikation

Die folgenden Theoreme stellen die Essenz von Kommunikation dar. Hier muss ich mich im Wesentlichen doch wiederholen, denn hier gilt, was für die Zweier-Kommunikation gütig ist, ist auch für die Kommunikation mit oder vor mehr Personen von Belang. Trotzdem kann ich natürlich verschiedene Ergänzungen und Spezifikationen vornehmen gegenüber dem, was für die ursprüngliche Zweier-Kommunikation gilt! Dieser Absatz ist das Herzstück dieses Beitrags und hat schon starke Vorgriffe zu den folgenden Fragen. Diese werden meist nur noch bestimmte Facetten des hier gesagten vertiefen. Der eilige Leser mag sich darum mit der komprimieren Botschaft an dieser Stelle begnügen.

  • Das grundlegende Verständnis vorab: Es gibt ja fast beliebig viele Definitionen und Verständnisse von Kommunikation. Aus meiner Sicht hat sich gerade wenn man Kommunikation gestalten will oder mit Kommunikation gestalten will, ein enger Kommunikationsbegriff als nützlich erwiesen. Gerade wenn nicht jede zufällige Entäußerung Kommunikation ist, kann ich mit dem Konzept erst arbeiten. So wird im Weiteren unter Kommunikation nur verstanden: das absichtliche Handeln zweier (intelligenzbegabter) Lebewesen miteinander zum Zwecke der Beeinflussung (von Bewusstseinsinhalten und Handlungen) mittels Zeichen. Vor dieser Abgrenzung sind alle folgenden Äußerungen zu verstehen. Andererseits machen die folgenden Äußerungen diese etwas spröde Definition erst plastisch.
  • Du kannst nicht nicht-kommunizieren. Das populärste aller Kommunikations- Axiome. In letzter Konsequenz allerdings falsch, da Kommunikation einen wechselseitigen und absichtsvollen Prozess darstellt. Richtig ist vielmehr, dass man sich nicht dagegen wehren kann, von anderen (auch falsch) interpretiert zu werden, selbst wenn man nichts ausdrücken wollte. Trotzdem zeigt das Axiom, wie wichtig die permanente Verständnis sichernde Auseinandersetzung mit relevanten Mitmenschen ist. Was besonders bei der Kommunikation mit / vor Mehreren eine Herausforderung darstellt, weil der Kommunikator nun mehrere mögliche Interpretationen in sein Kalkül miteinbeziehen muss. Was dazu führt, dass mit der Zahl der Kommunikations- Partner die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Kommunikationsteilnehmer sozial vermittelte Rollen übernehmen, d.h. sie einfach nicht mehr „sie selbst“ sind.
  • Kommunikation ist ein Prozess. Man muss die zeitliche Dauer im Auge behalten. Die Reduzierung auf einzelne Akte oder gar einzelne Medien, wie z. B. den Wortlaut des gesagten Satzes, blendet wesentliche Aspekte wie die nachfolgende Interpretation oder begleitende Aktivitäten wie Gestik und Mimik aus. Gerade bei der Kommunikation in Gruppen ist es nicht das Wort oder der Satz, der Verhalten und Bedeutung bestimmt, sondern die Summe der Reaktionen (explizit oder implizit) aller Beteiligten. Der Zeichen sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art, ist eine Illusion gerade in der Gruppenkommunikation.
  • Kommunikation ist intentional. Alles was nicht-intentional ist, ist etwas anderes. In der Beschäftigung mit Kommunikation liegt somit kein Allheilmittel für alle Formen möglicherweise störungsanfälligen Sozialverhaltens. Es liegt aber auch ein Vorteil darin, nicht jedes Verhalten als Kommunikation auf sich selbst beziehen zu müssen. Dieser vordergründig methodische Kniff scheint auf den ersten Blick gerade für Gruppenkommunikation unbefriedigend, gibt es doch gerade hier viele solcher Verhaltensmuster, z. B. das Ritual, oder das eher subkommunikative Imitationshandeln, das z. B. Aggression vermeiden soll oder Nähe erzeugen soll. Viel Potenzial für die Analyse von Gruppenkommunikation liegt in der Frage, ob solche Effekte bewusst intentional herbei geführt werden können, oder ob ihnen unbewusste Verhaltensstereotype – also in unserem Sinne „Nicht-Kommunikation“– zugrunde liegt.
  • An Kommunikation sind mindestens zwei Individuen beteiligt. Allerdings wird über den Punkt, ob die Individuen Menschen sein müssen oder auch Tiere und Maschinen sein können, viel gestritten. Und die Beteiligung kann durchaus indirekt (über Entfernungen und Zeiten) sein. So gesehen ist Medien- Kommunikation indirekt immer Kommunikation mit Gruppen, weil zur Medienerfahrung elementar das Verständnis gehört, dass auch andere die Nachricht ebenfalls rezipieren. Jeder kommunikativen Äußerung wohnt immer eine Vorstellung über den Anderen, sein aktuelles und sein zukünftiges Denken und Verhalten inne. In der Gruppenkommunikation entsteht zusätzlich eine Vorstellung über das den Teilnehmern Gemeinsame. D.h. zusätzlich hat jeder Kommunikator nicht nur ein Modell über seine Gegenüber,sondern auch über seine Gemeinschaft.
  • Kommunikation kann scheitern – bemerkt und unbemerkt. Es ist zentral, dies zu wissen und entsprechende Vorsichts- und Kontrollmaßnahmen in sein kommunikatives Tun einzubauen. Für die Gruppenkommunikation bedeutet das, die grundsätzliche Entscheidung, wen man in die Gelingensbedingungen seiner (intentionalen) Kommunikation einbeziehen möchte. Will ich nur eine Person in ihrem Verhalten und / oder Denken beeinflussen und alle anderen sind (für mich) nur Rahmenbedingungen, positiver oder negativer Art, oder ist es meine Aufgabe mehrere Personen gleichzeitig zu beeinflussen.
  • Kommunikation ist Arbeit. Wesentliche Teile der Arbeit werden nicht für die inhaltlichen Elemente, sondern für die Aufrechterhaltung und die Gestaltung der Rahmenbedingungen (z.B. physische Wahrnehmbarkeit, subjektive Sympathie, soziale Hierarchie) aufgewendet – und müssen dies auch. Kommunikation verbraucht daher Energie und ist im beruflichen und privaten Umfeld ein knappes und nicht beliebig reproduzierbares oder gar multiplizierbares Gut, auch nicht oder erst recht nicht durch den Einsatz von technischen Hilfsmitteln. Ein wichtiger Aspekt der Gruppen-Kommunikation ist die Hoffnung, durch das gleichzeitige Kommunizieren mit mehreren Individuen Arbeit, Zeit und damit Energie zu sparen. Hier gilt eine Art kommunikativer Unschärfe-Relation, je einfacher und offener mein Kommunikationsziel ist, desto mehr Personen kann ich gleichzeitig adressieren und desto mehr Energie kann ich sparen. So kann ich die reine Aufmerksamkeit auf meine Person durchaus noch bei 50.000 Menschen gleichzeitig erreichen, zum Beispiel als Flitzer in einem Fußball-Stadion. Emotionale Sympathie oder intellektuelle Synthese zu erzeugen verbrauchen ein Vielfaches an persönlicher Energie, sodass eine bestimmte Gruppengröße diese Ziele zum Scheitern durch fehlende kommunikative Kraft bringen kann.
  • Die Subjektivität jedes Einzelnen ist unhintergehbar. Wir müssen damit leben, dass wir unseren Mitmenschen nicht in die Köpfe schauen können. Selbst das unentwegte Wiederholen von Aussagen oder das lange Schleifen an Formulierungen ändern nichts an der Freiheit des Einzelnen und an der Unsicherheit über die Interpretation des anderen. Wir können uns dabei auch selbst nicht unserer eigenen Subjektivität erwehren – Objektivität ist keine Willenssache. Das spannende an der Kommunikation mit Gruppen ist, dass sich die Subjektivität auf der einen Seite potenziert. Auf der anderen Seiten können Gruppen, die über die reine Anwesenheit mehrerer Personen hinaus Eigenschaften sozialer Gemeinschaft aufweisen, Verhaltensweisen, Kommunikationsroutinen und auch Interpretationen stabilisieren, was uns zum nächsten Punkt führt. Dies ist aber keinesfalls gleichbedeutend mit der Aufhebung von Subjektivität. Vielmehr birgt jede sozial geteilte Bedeutung die Gefahr der Täuschung und des Missverständnisses.
  • Kommunikation objektiviert sich (nur) außerhalb der Kommunikatoren. Objektiv sind nur Äußerungen, Medien und Handlungen. Diese entfalten auch intersubjektive Wirkung und schränken die subjektiven Freiheitsgrade der Interpretation und des Handelns ein, ohne aber die Subjektivität ausschalten zu können. Ein gesagter Satz verändert die Situation zwischen zwei Personen, ohne dass sich genau festlegen lässt wie. Aber durch eine Kette von Äußerungen, Medien und Handlungen – durch Diskurs – erreichen Individuen und Gemeinschaften eine gewisse, lebensnotwendige Stabilität in ihren Interpretationen
  • Kommunikation ist ein gemeinschaftlicher Gestaltungsprozess. Gestaltet werden zwei subjektive Welttheorien und ein intersubjektives Medium. Erst Gestaltung formt aus den beiden die Kommunikation zwangsläufig begleitenden Prozessen Interaktion und Wahrnehmung den Sinn, um den es bei Kommunikation geht und der Kommunikation lebensnotwendig macht. Im Medium und in Handlungen manifestiert sich dabei intersubjektiv Gemeinschaft, die auf diese und zukünftige Kommunikation zurückwirken kann. Hier sieht man auch, dass die Effizienzhoffnung der Gruppenkommunikation, einmal kommuniziert, X Personen erreicht, schnell an der Komplexität der zu gestaltenden Gemeinschaften zerschellt, denn ich muss nicht bloß X, sondern X*(X-1) Welttheorien gestalten, sobald ich unterstelle, dass die Gruppenmitglieder alle auch untereinander interagieren, d.h. auch potenziell sich gegenseitig interpretieren und letztlich beeinflussen. D.h. durch die Gruppe steigt das Risiko des Scheiterns von Kommunikation exponentiell, selbst wenn es im Gegenzug auch die Hoffnung auf positive gegenseitige Bestärkung von Interpretation gibt. Was sich mit der alltagsweltlichen Erfahrung deckt, wirklich schwierige und möglicherweise missverständliche Gespräche unter 4 Augen zu führen.
  • Alles ist Zeichen. Nicht alles ist nur Zeichen. Alles Belebte und Unbelebte kann durch Interpretation eine Bedeutung erlangen. Nur als Zeichen können wir uns diese Bedeutungen aneignen. Die Bedeutung eines Zeichens bestimmt sich – wie Wittgenstein so treffend gesagt hat – nur im Gebrauch. Wobei gerade in größeren Gruppen öfter auf vermeintlich sichere und sicher geteilte Interpretationen – also Bedeutungen vor Gebrauch – Bezug genommen wird. Geschieht dies unreflektiert und unkontrolliert, liegt hier die größte Fehlerquelle für Kommunikation mit Gruppen.
  • Medien sind nicht neutral, in Bezug auf Kommunikationsverlauf, -inhalt und -ergebnis. D.h. wie und worin Kommunikationsabsichten und -inhalte geäußert werden, ist wichtig für Kommunikationserfolg oder -misserfolg. Derselbe Wortlaut im persönlichen Gespräch, in einer Mitarbeiterversammlung, im Intranet oder in der Bildzeitung können grundlegend andere Wirkungen, d.h. Interpretationen, hervorrufen. Was letztlich auch mit der jeweils anderen Integration der mitkommunizierenden Gruppe zusammenhängt.
  • Durch eine dritte Person verändert sich Kommunikation grundlegend qualitativ. Kommunikation in Gruppen zerfällt nicht in Teile von Zweier- Kommunikation. Es entsteht die Notwendigkeit Verhaltensweisen und Bedeutung der Kommunikation zu externalisieren und zu objektivieren. Können sich zwei Personen zumindest theoretisch die gesamte Geschichte ihrer Kommunikation merken und ihre Interpretationen darauf aufbauen, muss ich mich bei Gruppenkommunikation zwangsläufig auf Verhaltensweisen und Interpretationen stützen, die nicht einer gemeinsamen Kommunikationshistorie entstammen. So sorgt erst die dritte Person für die Notwendigkeit, soziale Mechanismen zur Herstellung von Bedeutungsstabilität zu entwickeln, z. B. Mythen oder Schrift. Eine absolute Trennung von Zweier- und Dreier-Kommunikation ist aber hypothetisch, da ich auch im Zweier- Verhältnis nie nur auf symbiotisch geteilte Bedeutungen oder Kommunikationsmuster zurückgreifen kann. Und selbst im Selbstgespräch oder im Tagebuch bedienen wir uns sozialer Kommunikationshilfen, um unserer Vergesslichkeit und unserer eigenen Veränderung zu begegnen. Während die dritte Person die Kommunikation qualitativ verändert, hat jede weitere Person nur noch einen quantitativen Effekt auf unsere Wahrnehmung, Konzentration und Zuwendung aber keinen qualitativen.
  • Wir alle spielen Theater. Dieser Buchtitel von Goffman bringt plakativ auf den Punkt, dass sozial verdichtete Erwartungen an uns in starkem Maße unser Verhalten und auch unsere Kommunikation beeinflussen. Für die Betrachtung der Kommunikation zentral ist dabei, zu berücksichtigen, dass große Anteile unseres kommunikativen Verhaltens nicht der Vermittlung von Neuigkeiten, der Verhaltens- oder Verstehensbeeinflussung anderer dienen – also dem was wir gemeinhin als Zweck und Funktion von Kommunikation ansehen –, sondern der Entsprechung und dem Aufrechterhalten der sozialen Erwartungen. Es kann daher sehr fruchtbar sein, diese Aspekte als Nicht-Kommunikation von der eigentlichen Kommunikation zu trennen und sie z. B. unter dem Phänomen des Rituals zusammenzufassen. Dieser Ansatz hat sich aber weder im alltagssprachlichen noch im wissenschaftlichen Reden über Kommunikation durchgesetzt. Andererseits wird immer mal wieder die Forderung erhoben Kommunikation von den sozial vorgegebenen Masken zu entkleiden oder sie von der Bühne herunter zu holen (namentlich in so genannten Reality-Formaten in den Medien). Dabei wird verkannt, dass so meist nur ein sozialer Rahmen durch einen anderen ersetzt wird. Und dass wir als soziale Wesen von allen sozialen Masken entkleidet wahrscheinlich nicht unser „wahres Ich“, sondern ein uninterpretiertes, asoziales und somit unverständliches Es zeigen werden.

Typische Deutungsmuster in der Kommunikation (Analyse- und Lösungsstrategien)

Die Kommunikationswissenschaft untersucht basieren auf den oben gemachten Basiserkenntnissen und -annahmen verschiedene Facetten der Kommunikation:

  • Gesprächs-Ablauf-Muster und Strukturierungsprozesse: Hier geht es um allgemeine Muster und Techniken wie sich z. B. Gespräche entwickeln. Welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Impulse Teilnehmer setzen, um den Gesprächsfluss zu lenken. Es geht um das Erlangen des Rederechts, um Techniken Inhalte und Interpretationen durchzusetzen und vieles mehr. Dabei gibt es rein empirische Vorgehensweisen, die nur Beobachtungen sammeln und beschreibend gruppieren. Aber immer beliebter werden – gerade in ökonomischen Zusammenhängen – Ansätze, die versuchen die Erkenntnisse operativ nutzbar zu machen, in dem man bestimmte Verhaltensmuster an- oder abtrainiert bzw. auf Schlüsselmuster bei seinem Gegenüber achtet, um darauf dann bestimmte erfolgreiche eigene Verhaltensmuster anknüpfen zu lassen. In ihrer notwendigen Verallgemeinerung und Vereinfachung sind diese Ansätze, z. B. Theorien zur Körpersprache oder auch das sehr populäre NLP, aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht mit großer Vorsicht zu genießen. Zumal sich gerade in der Gruppenkommunikation, wie gezeigt, die Komplexität und Interdependenz exponentiell erhöht
  • Gattungsentwicklung: An die allgemeine Mustererkennung schließt die Beschreibung verschiedener Kommunikationsgattungen an. Wobei die Kriterien der Gattungsbildung recht vielfältig von Ort (Kneipen-Gespräch) über Ziel (Beratungs-Gespräch) bis zum Sozial-Verhältnis (Arzt-Patienten-Gespräch) sein können. Ein allgemein akzeptiertes Gattungsschema hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Und die vollständige Bearbeitung z. B. aller möglichen Gesprächs-Ort-Gattungen scheitert an der unterschiedlichen Zugänglichkeit solcher Orte wie z. B. dem Schlafzimmer. Nichtsdestotrotz können Gattungsbeschreibungen, wie das Lehrer-Schüler-Gespräch bei entsprechend solider Fallzahl wesentlich verlässlicher Verstehens- und Verhaltenshilfen liefern als abstrakte Hilfestellungen z. B. zu universalen Bedeutungen der Mimik.
  • Soziale Bedeutungen und Interpretationen (sprachlich, nicht-sprachlich): Über die Gattungen hinaus, die wie die allgemeine Gesprächsanalyse noch sehr am Gespräch und an dessen Ablauf orientiert sind, arbeitet die Kommunikationswissenschaft auf breiter Front daran zu beschreiben und zu verstehen, wie soziale geteilte (stabile) Bedeutungen und Interpretationen entstehen. Dabei gilt es drei Stränge zu verknüpfen: erstens die individuelle Bedeutungsgenese, die in unserer offenen Gesellschaft zwar immer komplexeren Mustern folgt, die aber bei ähnlichem Verlauf eine sichere Quelle gleicher oder zumindest ähnlicher Interpretationen zweier Individuen darstellt. Zum zweiten einen Mediendiskurs der zur Übernahme von eher stereotypen, weniger verinnerlichten und daher flüchtigen Interpretationen führt. Und drittens die konkrete Aktualisierung von Interpretationen in der tatsächlichen Kommunikation, die im Aufeinandertreffen verschiedener Vorinterpretationen, Kommunikationsziele und Verhaltensweisen dann zur aktuellen Interpretation führt. Dabei arbeitet die Kommunikationswissenschaft in den letzten Jahren verstärkt daran, Interpretation und Bedeutung keinesfalls auf Sprache oder gar schriftlich fixierbaren Text zu reduzieren.
  • Interdependenz Kommunikation und Sozialität: Das Wechselverhältnis von Kommunikation und Gesellschaft bzw. Gemeinschaft ist ein weiterer zentraler Untersuchungsgegenstand. Auch wenn es zwei klar getrennte wissenschaftliche Gegenstände sind, bedingen und beeinflussen sie sich doch über weite Strecken. Kommunikation bedarf einer sozialen Basis, bzw. Kommunikation über soziale Grenzen hinaus bedarf besonderer Anstrengung und Aufmerksamkeit, z. B. zuallererst der Erkenntnis, dass soziale Grenzen überschritten werden. Gemeinschaften wiederum benötigen für ihre Stabilität bestimmte Kommunikationsweisen und wiederkehrende Interpretationen, oft verdichtet in den zentralen Symbolen einer Gemeinschaft. So sorgen z. B. die Interpretationen innerhalb der Gemeinschaft der Ökonomen und Manager für stabile und voraussagbare Kommunikationsergebnisse, diese bestätigen gleichzeitig die Bedeutung und Macht dieser Gruppe im gesamtgesellschaftlichen Umfeld.
  • Pragmatik – erfolgreiche Kommunikation und Zeichengebrauch: Eine wachsende Zahl von Forschern und Wissenschaftlern versucht sich im Spagat zwischen alltäglichem Sprachhandeln und wissenschaftlicher Reflektion, um kommunizierenden Organisationen und Individuen Hilfestellungen geben zu können. Dabei hat dies in den 70er und 80er Jahren seinen Anfang bei der klassischen Gruppensituation, wie der Unterrichtssituation oder der Gerichtsverhandlung genommen, sich aber in den letzten Jahrzehnten stärker den medial vermittelten Kommunikationsbedingungen zugewandt, insbesondere den Themen der Wirtschaftskommunikation, d.h. wie funktioniert Werbung und wie entstehen Produkt-Bedeutungen, und den Medien selber, d.h. warum werden welche Medien gelesen und wie beeinflussen Medien Verhalten und Verstehen bestimmter Gruppen. Durch die Medienrevolution, die Massenmedientechnologie in die Hände aller – oder zumindest entsprechend ausgebildeter Gruppen – gegeben hat, erleben wir hier eine Konvergenz von Mediennutzung, individueller Kommunikation und ökonomisch durchdrungener Kommunikation. Allerdings werden die Felder des Interesses gerade bezüglich der Pragmatik erfolgreicher Kommunikation immer noch durch ökonomische Interessen vorgegeben.

Typische Anwendungsfelder dieser Kommunikation

Wenn man das bis hier hin Gesagte weiter konkretisiert ergeben sich ganz konsequent die typischen Anwendungsfelder der Kommunikationswissenschaft:

  • Die Untersuchung spezifi sche Kommunikationssituationen, z. B. Visite, Verhör, Verhandlung, Meeting
  • Allgemeine Rhetorik – wirkungsvolles Kommunizieren, insbesondere Ratschläge und Trainingsprogramme für einzelne Personen für bestimmte Situationen z. B. Verhalten vor der Kamera oder auf Basis einzelner oder mehrerer Handlungsprogramme, z. B. Akzeptanzfaktoren in sozialen Medien.
  • Stabilität und Verlässlichkeit von Zeichen- / Bedeutungssystemen, hier sind zuerst Marken und Unternehmen als Auftraggeber und Untersuchungsgegenstände zu nennen, aber im Zeichen der Globalisierung wird interkulturelle Kommunikation immer interessanter und wichtiger.

Typische Kritik an der Wissenschaftsdisziplin

Zentraler Ansatzpunkt der Kritik an der Kommunikationswissenschaft ist ihr Gegenstand selbst. In ihrer Universalität und der gleichzeitigen Flüchtigkeit liegt die Ursache, dass sowohl Laien als auch Experten anderer Disziplinen die Notwendigkeit und Relevanz einer Kommunikationswissenschaft nicht erkennen. Als quasi natürliches Phänomen und angeborene Fähigkeit wird sie oft nicht problematisiert, und wenn werden Teilaspekte dann anderen Wissenschaften wie der Soziologie, Informatik, Ökonomie etc. zugeschlagen.

Darunter leidet dann wiederum die Klarheit, Struktur und Akzeptanz der Begriffe, Methoden und Theorien der Kommunikationswissenschaft, wenn es zu interdisziplinären Vermischungen mit den anderen Wissenschaften kommt. Andererseits lässt sich der Wert einer theoretischen Klärung zentraler Begriffe wie Kommunikation, Wissen, Information, Zeichen etc. schwer vermitteln, wenn man mit allgemeinsprachlichen Konzepten und den gleich lautenden Konzepten anderer Wissenschaften konkurriert, die oft mehr Präsenz und Deutungsmacht besitzen.

Und im Zwang einer anwendungsorientierten Vermarktung der wissenschaftlichen Arbeit läuft die Kommunikationswissenschaft Gefahr ihre Begriffe und Theorien soweit zu simplifi zieren, dass sie sich zu wenig von Ad-hoc- oder Common-Sense-Theorien unterscheiden. Andererseits gelingt es ihr zu selten, anders als z. B. der Betriebswirtschaftslehre oder der Mathematik, aus ihren abstrakteren Konzepten soziale, politische, technische oder ökonomische Verhaltensmaßregeln abzuleiten.

Umso wichtiger ist es, dass sich Berufszweige, die unstrittig mit Kommunikation beschäftigt sind, z. B. Journalisten, Softwareentwickler, Werbefachleute und eben auch Coaches, in ihrer Ausbildung und in ihrer Berufsethik laufend auf den aktuellen Wissensstand der Kommunikationswissenschaft Bezug nehmen und sich nicht mit Ad-hoc- oder Pseudo-Wissen begnügen. Insofern ist dieser Beitrag in seiner synoptischen Verdichtung sicher auch eine Gratwanderung.

Bedeutung der Kommunikation für das Coaching

Eine Kommunikationswissenschaft, die sich auch mit Kommunikation von mehr als zwei Personen beschäftigt, kann für das Coaching, das wiederum in seiner Grundidee eine Zweier-Kommunikation ist, mehrere Hilfestellungen liefern.

Zum einen ist das Kommunikationsverhalten der Coachees gerade im Zusammenhang mit den wichtigsten sozialen Gruppen, zu denen wir gehören, dem Unternehmen und der Familie, eine Kommunikation mit mehr als einem Gegenüber. Die spezifischen Veränderungen durch die dritte Person, die in diesem Beitrag angerissen wurden, müssen dem Coach dabei wohl bewusst sein.

Auch zur Beurteilung der inhaltlichen Veränderungen und der besonderen Nützlichkeit von Coachings in und von Gruppen kommt man um eine genaue Kenntnis der Prozesse der Gruppenkommunikation nicht herum. Will man gerade die Wechselwirkung der Gruppe verdeutlichen und daran arbeiten oder ist das Verdecken der Subjektivität durch die Sozialität, die die Gruppe immer mit sich bringt, eher hinderlich.

Die Veränderung der Wahrnehmung und von entsprechenden Äußerungen vom „Einser“- über das Zweier- zum Dreier-Gespräch ist ein mächtiges kommunikatives Werkzeug, das im Coaching ebenso bewusst eingesetzt werden muss, wie im Personalgespräch oder im juristischen Verhör.

Auf der Mikroebene verdeutlich die Kommunikationswissenschaft die Dynamik und den Zeichengebrauch zur Herstellung von Kommunikationsflüssen und bei der Entstehung von Bedeutungen. Hier gibt es naturgemäß eine große Nähe zu direkten therapeutischen oder pädagogischen Sozialtechniken, wie z. B. der Aufstellung, die diesen Ablauf entweder nur bewusst machen oder im Gegenteil die gewohnten Prozesse aufbrechen wollen. Letztlich ist die Kommunikationswissenschaft zentral, um sowohl den Coaching-Prozess als auch zentrale lebensweltliche Inhalte des Coachings wissenschaftlich fundiert zu reflektieren.

Auf der Makroebene hilft die Kommunikationswissenschaft eine Verselbstständigung von Zeichen- oder Kommunikationssystemen, z. B. Leitlinien und regelmäßigen Verlautbarungen in Unternehmen, aufzudecken, denen es im Namen einer angestrebten Kommunikationseffizienz misslingt, die Unternehmensmitglieder zu erreichen und ihre subjektive Lebenswelt zu beeinflussen. Solche grundsätzlichen Defekte in der organisatorischen Gruppenkommunikation können über hochaktuelle Symptome wie Mobbing oder Burn-Out zum direkten Gegenstand von Coaching werden.

Der Text ist in Nina Meier (Hrsg.): Kompendium Coaching & Teamcoaching, Verlag: Wissenschaft & Praxis 2012 erschienen.
Hier können Sie den Artikel auch als PDF downloaden

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